Neulich sass ich mit meiner Tochter auf einer Bank in der City von Zürich, als sie mich mit einer Mischung aus Staunen und Unglauben ansah. «Papa, das kann doch nicht sein!» 🤔
Sie hatte mitbekommen, wie ich – ohne auf die Strasse zu schauen – die herannahende Strassenbahn identifizierte: mutmassliche Linie, Modell, Gedanke zum Wagen-Typ. Sie wollte wissen, wie ich das mache.
Es ist nichts Magisches, kein geheimes Wissen – nur eine feine Aufmerksamkeit für die Nuancen des Alltäglichen und gelebt, was ich LIEBE – die Serendipität.
Ich lausche. Ich nehme wahr, was sich mir in Klangmustern offenbart.
Das Rattern der Räder auf den Schienen, das dezente Surren oder gelegentliche Eiern älterer Wagentypen. Die Bremsen, die sich in unterschiedlich hohen Tönen ankündigen – ein leises Zischen hier, ein schrilles Quietschen dort. Die Art, wie die Türen entriegeln und sich schliessen. All diese akustischen Mosaiksteinchen fügen sich zusammen und lassen mich «sehen» – ohne zu sehen.
Vielleicht ist es eine intuitive oder erlernte Form der Synästhesie – dieses Vermischen von Sinneseindrücken, das sonst eher als das «Schmecken von Farben» oder «Sehen von Tönen» beschrieben wird. Bei mir ist es das Hören und daraus ein Bild formen. Aber ist das nicht letztlich eine Fähigkeit, die wir alle haben – oder wiederentdecken könnten?
Das Hier und Jetzt – Ein Fest der Sinne
In einer Zeit, in der unser Blick allzu oft an Bildschirme gefesselt ist – an Feeds, Playlists, kurze Clips und endlose Nachrichtenströme –, scheint es, als würden wir unsere Umgebung oft nur beiläufig wahrnehmen – wenn überhaupt noch. 🤔
Doch – wenn wir bewusst hinhören, hinsehen, riechen, fühlen und schmecken, dann entfaltet sich ein wahres Sinnes-Bouquet.
Die Stimme eines Menschen – nicht nur, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird.
Ein sanftes Vibrieren vor Aufregung, ein leichtes Zittern vor Unsicherheit, ein warmes Timbre voller Zuneigung.
Das dezente Rascheln der Jacke eines Passanten, das ein Bild seines Gangs vermittelt. Hinkend – Gehstock – Jung – Senior – …. Ein Niesen aus der Ferne – verrät es uns das Geschlecht, das Körpervolumen, vielleicht sogar die Stimmung des Moments?
Jede Sekunde ist voller Informationen – nicht aus einer App, sondern aus dem echten Leben, aus unserer direkten Umgebung. Und doch verlieren wir uns so oft in einer Welt der Konserven, konsumieren Klänge und Bilder, die uns fern von dem halten, was gerade jetzt geschieht.
Vielleicht lohnt es sich, hin und wieder innezuhalten.
Nicht gleich zur Playlist zu greifen, sondern dem Klang der unmittelbaren Umgebung zu lauschen.
Nicht gleich in die nächste Story eintauchen, sondern in das Mosaik der Stimmen um uns herum.
Vielleicht entdecken wir dabei eine neue Art zu sehen – durch das Hören.
Vielleicht entdecken wir damit wieder uns – unser Sein im Moment.
Geniesse ihn, denn er ist flüchtig und vergänglich.
La vita è bella! 😎
Wie immer sowie eh und je, dein/euer Maurizio
PS
Falls du in die Welt des Wischens und Scrollens eintachen magst und dort auf LinkedIn meinen Beitrag nochmals lesen/kommentieren wollen, dann gehts hier lang: https://www.linkedin.com/pulse/h%25C3%25B6ren-noch-nicht-gesehen-werden-kann-maurizio-tondolo-q3fff